von Heidi Urbahn de Jauregui
Notwendige Antworten auf vorhandene Probleme kann die
Politik dann geben, wenn sie sich auf eine wissenschaftliche
Analyse stützt, wenn sie frei ist von ständigen Schwankungen,
von Voluntarismus und Improvisation
Gorbatschow, »An die Teilnehmer des Forums am Issyk-Kul«
Hätten Corneille und Racine, so meinte Stendhal, für die Bedürfnisse des Publikums von 1824 arbeiten müssen mit seinem Glaubensmangel, seiner Verlogenheit, so hätten sie keine einzige Tragödie zustandegebracht. Ende 1986 schloß Peter Hacks seine erste Tragödie ab. Hält er das heutige Publikum für tragödienwürdig? Welch eine Zuversicht läge darin. Doch ich habe mich zu verbessern: Der Autor nennt sein Stück heimelig deutsch »Trauerspiel«, vermeidet also die welthaltige Bezeichnung »Tragödie«. Man muß annehmen, daß dies eine Bedeutung hat, da er auch Lustspiel und Komödie unterscheidet. Welttrauer sei heute das Normale? Ja, eben das meinte Stendhal seinerzeit auch. Was man dazu jedoch drucken läßt, klingt wie das Jaulen geschlagener Hunde. Trauer berechtigt den schaffenden Menschen nicht dazu, unter dem Vorwand der Authentizität in einen vorwissenschaftlichen oder gar vorhistorischen Stand seiner Geschichte zurückzufallen. Sich selber treu, authentisch also, handelt er da, wo er sich höchste Leistung abverlangt. Zerstörung aber ist keine Leistung. Leiden, in die Form gebracht, wird heute allzumal mangelnder Tiefe verdächtigt. Heute? Es wurde damals dem Autor, der seine »Iphigenie« in metrische Sprache übersetzt hatte, eine Erkaltung seiner Anteilnahme an der Welt vorgeworfen.
Jona, der Prophet aus dem Trauerspiel, fragt sich angesichts der verheerenden Verhältnisse, deren Zeuge er zu sein hat, warum derartige Dinge noch in menschlicher Sprache abgehandelt würden. Hacks behandelt ebendiese Dinge im Blankvers. Hören wir Eskars Klage aus »Jona«. Die Bilderfülle dieser Klage ist meilenweit entfernt von jener einst dem Moritz Tassow in den Mund gelegten, ironisch gemeinten Bildhuberei, da der Sonne und Planeten bemühte, um seine falsche, schnell welkende Hoffnung zu artikulieren. Wen Eskars Liebesklage nicht bewegt, der ist unerreichbar für das mit höchstem ästhetischem Aufwand behandelte Trauerspielgenre. Muß gesagt werden, daß mit »Liebe« nicht bloße Geschlechtsliebe gemeint ist? Heute mag der Hinweis notwendig sein, da Theatertexte nurmehr noch aus Henkeln bestehen, denen keine Gefäße angefügt sind. Asyrte, die Beklagte, ist Prinzessin, Tochter der Herrscherin Semiramis, und sie bedeutet also die Zukunft des alten Ninive. Eskar, der trauernde Fürst und Feldherr, wurde mit der Regelung der zur Zeit wichtigsten Dinge im Staat betraut. Beider Entzweiung ist ein Mißverständnis und die Folge von Semiramis’ Machenschaften. Man sieht, was bei dieser Liebesklage auf dem Spiele steht. Der Stirnreif, mit dem die Prinzessin den Geliebten schmückt, sollte würdiger Ausdruck jener Vereinigung sein, die das solideste Fundament eines Staatswesens ist. – Wahrhaftig, ohne Henkel arbeitet auch dies Theater nicht, doch bleibt uns, sie ergreifend, viel zu heben:
ASYRTE | Den haßt wohl jeder, der ihn morden will. |
ESKAR | Ach für den Mord, da liebt ich Sie ja sehr. Doch durften Sie mich nicht Verräter nennen. Welch ernsten Schaden stiften Sie in mir. Wie wenn die Flut ein festes Vorgebirg Abbricht und in dem Meer verschwinden läßt Oder ein innres tief erzeugtes Beben Die Kruste aufreißt, die der Mensch bewandelt, Und uns ein Schauder anfaßt – nicht aus Angst, Sondern weil solche Art Erschütterungen Uns das Vertrauen in die Erde rauben Und alles Rechte und Beständige –, So haben Sie den Boden mir entzogen, Drauf ich zu wohnen dachte bis ans Ende. |
Jona übrigens, dem gottgesandten Propheten, der den hohen Standpunkt zu vertreten hat, ist eine in kunstvoller Lockerheit komponierte Prosa vorbehalten. Schiller sagt, metrische Sprache sei »ideell«. Hacks sagt, sie diene im Drama der Handlung, während Prosa die Reflexion befördere. Wie gehen die beiden Ansichten zusammen? Nun, Handlung ist im Drama umgesetzte, zu Ende geführte Reflexion, gleichsam die höhere Stufe des Gedankens, der, unbekleidet durch Gestalt gewordene Hoffnung, will sagen durch Ausführung, eine noch rohe Vorform darstellt. Aber handelt Semiramis denn, ohne zuvor zu denken? Ja, eben das ist der traurige Inhalt dieses Trauerspiels. Im mustergültigen Vers wird die Nichtigkeit ihres Tuns ausgestellt, die anspruchsvolle Form macht die Hohlheit sichtbar. Jona ist nicht zu täuschen: Er sieht die Dinge so, wie sie sich im dünnen Mantel der fadenscheinig gewordenen Hoffnung präsentieren.
Er, der kluge Beobachter, ist auftragsgemäß ständig anwesend; das allein schon ist eine prosaträchtige Befindlichkeit. Sein Auge ist der außerhalb liegende Fluchtpunkt, in dem sich die verlängerten Linien aller Handlungen treffen. Mit Jona aber schaut das Publikum auf das, was da geschieht. Ohne aus dem Stoff zu fallen, wird hier mit reinen Theatermitteln das versucht, was Brecht nur über die Verfremdung zu erreichen gedachte: den Zuschauer hinzuführen zur Reflexion. Aus dem »Glotzt nicht so romantisch!« ist das wahrhaft dramatische »Seht hin!« geworden. Da sitzt Jona nun auf seinem Stuhl am Eingang des Palastes – und registriert. In diesem lidschlaglosen Hinsehen-Müssen eben besteht die Last seines Erwähltseins. Niemand von allen diesen so Betroffenen in Hacksens Werk, der diese Last nicht mit äußerstem Widerstreben auf sich genommen hätte. Freilich, so sehr wie Jona hatte sich noch keiner der Helden dieses Theaters dagegen gewehrt, die Welt retten zu müssen. Es ist das nämlich ein elendes Geschäft, dies Arbeiten im groben, dies bloße Vom-Untergang-Wegreißen, wenn einer in sich das Bild von einer schon eingerichteten und auf den Weg gebrachten Welt trägt, auf dem er selbst längst geht. Dem Übermaß des Sich-Entziehens entspricht im vorliegenden Fall die Ausgefallenheit des Wiedereinholens. Der Erwählte muß sich vom Wal verschlucken und von ihm an seinen Bestimmungsort bringen lassen. Er sei nur einer von den kleinen Propheten gewesen, höre ich? Aber Gott hat ein riesengroßes Interesse an ihm genommen. Warum sollte der Dichter nicht ein Gleiches tun und ihn in sein Trauerspiel aufnehmen und den Widerstrebenden dorthin bringen, wo er nicht gern weilt, wo aber offensichtlich seines Ortes ist, wie wir der Dichtertat entnehmen. Das ist es ja eben, was diesen Jona hier so besonders macht, daß er nämlich mit Semiramis zusammengeführt wird, er, der Nachdenkliche mit der unbedachten Königin. Aber das sei ein Nonsens und wider alle Geschichte? Eben gegen diesen Vorwurf hatten sich die französischen Klassiker auch zu wehren, und sie taten es niemals, indem sie sich hinter der dichterischen Freiheit verschanzten. Wer hätte ihnen dahin folgen können! Vielmehr hatten sie, wie ihr östlicher Nachfahr auch, die Geschichtsquellen genauer studiert als ihre Kritiker. Wir kennen eine mythische, babylonische Semiramis, auf die der biblische Jona schwerlich gestoßen wäre. Aber die Geschichtsbücher wissen von einer historischen, assyrischen Königin gleichen Namens, die den Walpassagier hätte treffen können – getroffen hat, wie nun seit »Jona« gewiß ist.
So nimmt der Prophet seinen Platz auf der Palasttreppe ein, und ein Kürbisblatt hält die Sonnenhitze von ihm ab, wie es einst den Satanael vor der Kälte schützte – der Kürbis ist wohl das, was in der preußischen Landschaft gut gedeiht. (Aber schon Luther habe an dem gelegen, höre ich. Umso besser! So gedeiht er eben auch im Thüringisch-Sächsischen.) Der Prophet legt Wert auf die kleine Annehmlichkeit des Schattenspendens. Wo die größern Dinge sehr im argen liegen, bekommen die kleinen ihre Wichtigkeit, und die Wetterverhältnisse nehmen einmal diesen breiten Raum in unserm Leben ein. Jona: »... das Dasein läßt sich nur unter ganz niedrigen oder ganz hohen Gesichtspunkten ertragen. Wir können auf eine andere Welt hoffen oder auf etwas frische Luft, was dazwischen ist, läßt sich kaum verteidigen.« Die Tatsache allerdings, daß das Wetter alljährlich schlechter wird, läßt die Vermutung zu, daß es zwischen der unteren und der mittleren Ebene Korrespondenzen gibt. Ersichtlich läßt sich der Prophet doch auf allerlei Weise mit der Trauerspielhandlung ein. Seine überwiegende Tätigkeit besteht allerdings darin, auf der Bühne herumzusitzen. Die Frage, was würde sich an der Dramenhandlung ändern, wenn Jona nicht da wäre, gibt keinen Sinn. Würde man etwa einer klassischen Landschaft von Poussin die steinerne Figurine entfernen, so bliebe die um diese gruppierte Gesellschaft ganz die gleiche, aber dem Betrachter würde der Bezugspunkt genommen.
Ach, was nun die heitere Welt des Poussin angeht ... Man muß es schon sehr abgezogen sehen. Immerhin ist Jona, wenn nicht gerade mit spektakulärem Ankommen und Herumsitzen, mit geräuschvollem Verfluchen beschäftigt. Letzteres bleibt folgenlos. Doch nicht nur diese Folgenlosigkeit ist von höchster dramatischer Wichtigkeit, der Prophet überhaupt ist es. Ohne Jona handelte das Stück, wenn auch auf hoher Kunstebene, davon, wovon heutzutage Kunst allzumeist handelt: vom sinnfällig gemachten Unsinn. Aber das eben, der Unsinn nämlich, sei die Mitte des vorliegenden Dramas und das Interessanteste der Sache des neuen Hacks-Gefühls, das uns da vermittelt würde? Sagen wir es also ein wenig deutlicher: Ohne Jona erinnerte das Trauerspiel an die heute üblichen Weltuntergangsstücke, die vom Zuschauer weiter nichts verlangen, ihm weiter nichts geben als ein bißchen Gruseln. Mit Jona wird er eingeladen, teilnehmend zu urteilen, so wie der Zuschauer der griechischen Tragödie mit Hilfe des Chors aus der Unfreiheit des Erschauerns zur Freiheit eines Urteils hinaufgeführt wurde.
Wie sind die Etappen, die im Dichterwerk zum Propheten Jona hinleiten, will sagen: zu dem aus seiner Unendlichkeit heraustretenden, seiner selbst sich vergewissernden absoluten Geist? Ich will deren drei zitieren: In der »Amphitryon«-Komödie steigt der Gott liebend herab vom Olymp und stiftet allerlei Unruhe und einige Lehren. Die Liebe ist ja das klassische Mittel des Aus-sich-Heraustretens und Sich-Anschauens im andern. In der »Adam und Eva«-Komödie ist Gott des leiernden Cherubenlobs und seiner ebenso langweiligen Umkehrung, der Teufelsmäkelei, überdrüssig und schafft sich im selbst handelnden Menschenpaar lohnendere Gesprächspartner. An die Stelle der Liebe ist ein väterliches Interesse, ja sogar Ergriffensein getreten, wie man es von jenem oberen Standpunkt aus empfindet, da man die Menschen in ihrer Gesamtheit, in ihrer Unterscheidung vom Tierreich betrachtet und nicht als ärgerliche Einzelerscheinung. In der »Numa«-Komödie dann wird ein vollkommener Herrscher vorgeführt, dessen hoher Ernst im Gegensatz zum Clowngebaren seiner Umwelt steht, dessen Amt und Ernst es aber erfordern, sich da einzumischen und zu regeln und also eine Ahnung von künftiger Ordnung zu verbreiten.
Die heiterste Komödie dieses Dichterschaffens ist »Numa« gewiß nicht, und erkennbar wird, wie da ein erdiger Pfad der Erfahrung beschritten wurde; aber welch ein Weg von dort bis »Jona«, bis zum Trauerspiel hinunter! Es gehe also in die Tiefe, wird da vermutet? Und ich sehe schon, wie man sich die Hände reibt und genüßlich zuflüstert: Endlich ist er einer der Unsern, hat endlich unser Niveau, richtet sich ein in der Nestwärme unserer Schreiberopposition und bequemt sich zur Humilitas – man wird demnächst mit ihm verkehren können. Wann aber, so frage ich, läßt sich von einem Dichter sagen, er nähme den Weg bergab? Gibt es da nicht eine Verwechselung? Wenn etwa der Verfasser von »Anna Karenina« eines Tages beschließt, die Ernte seiner Lebenserfahrung auf andere, erdnahe Weise einzubringen als bisher und sich mit seinen Bauern ans Sicheln macht, dann läßt sich wohl mit Fug behaupten, der sei im Mist gelandet. Oder um näher bei unserer Zeit zu bleiben, wenn ... ach, wie auswählen aus der Fülle der Beispiele! Wer den desolaten Zustand der Welt abschreibt mit unübersetzten, desolaten Mitteln, der produziert bloß eine ärgerliche Verdoppelung, Naturalismus eben.
Übrigens nimmt Chronos’ Wagen die wunderlichsten Wege – schließlich, der Dichter ist eben erst 60 geworden. Nicht auszudenken, was da noch alles folgt! Doktoranden, denen nach Synthese ist, kann man nur abraten von diesem Werk, dessen weitgezogene Fundamente sich eben für Scharfäugige abzuzeichnen beginnen. Welch eine lange Reise macht die Hoffnung allein im Mittelteil des Œuvres, vom Sich-Entäußern in der Liebe also bis zur Verfluchung des Propheten! Doch der Fluch, so hieß es, bliebe folgenlos. In der Tat, es kommt noch schlimmer. Der Gott aus der Maschine erscheint nicht in Blitz und Donner und mit zornigem Götterwort, sondern er ist sprachlos. Eindrucksvoller kann ein sprachmächtiger Dichter seine Betrübnis nicht ausdrücken: Das letzte Wort, gewissermaßen, hat der, dessen Witz nicht mehr ausreicht, um noch Worte zu machen. Gestorben sind am Ende nicht Leute, wie wir es sonst aus Trauerspielen kennen, gestorben ist die Hoffnung. An Jonas Fluch liegt es wirklich nicht.
Aber wenn wir auf den Anlaß zu seinem Fluch zu sprechen kommen, müssen wir noch einmal das östliche Kürbisgewächs erwähnen. Gleich seinem asiatischen Zwilling, dem Rizinus, muß es erkranken, damit der Prophet vom vorschnellen Zorn gesunde. Ihm ist, nach allem, was er gesehen und gehört, schon sehr nach Verfluchen. Da verdorrt plötzlich die schattenspendende Pflanze, und Jona, anders als heutiges Publikum im Lesen von Gleichnissen geübt, versteht, was Gott ihm bedeuten will: Jona lamentiert über die Vernichtung einer Pflanze, welche den Schöpfer nur ein Stücklein Arbeit gekostet hatte, und schickt sich an, eine Stadt dem Untergang preiszugeben, welche das Resultat von vielen Jahrhunderten Arbeit ist. Jona: »In allem, was ist, steckt Anstrengung, jedes Wirkliche hat seinen Wert.« Jona ist Hegelianer, und hier wird die Humanität des Hegelwortes von der Vernunft des Bestehenden offenbar, das man oft hat mißdeuten und in schlechte Gesellschaft rücken wollen.
Wie hätte Zerstörungseifer auch gepaßt zu einem, der sich Gottes Auftrag so ausdrücklich zu entziehen versuchte! Ein eifernder Jona ist bei Hacks ebensowenig vorstellbar wie ein eifernder Numa oder all jene Helden dieses Theaters in Eifer, die Totalität bedeuten und deren äußerste Konzentration auf ein Wesentliches den Anschein der Ruhe hat. Eine zweite Besonderheit des Hacksschen Jona ist eben seine Geduld. Die macht ihn groß. Der biblische Jona hingegen ist ungeduldig. Er hat Eile mit dem Verfluchen. Das macht ihn klein. Er flieht vor Gottes Auftrag, weil er von seinem eigenen schnellen Zorn weiß und Gottes Langmut ihm ein Ärgernis ist. Hacksens Jona aber flieht seinen Auftrag, weil ihm das Verfluchen im Grunde nicht liegt. Jona: »... mir liegen Einsicht, Verständnis, Entschuldigung mit Umständen.« Dieses Umlenken eines vorgegebenen Stoffes mit negativem Inhalt ins Positive ist eine Eigenheit, die wir immer wieder in diesem Theater finden. So dient der Rollentausch von Herkules und Omphale nicht der Erniedrigung, vielmehr der Erweiterung des Helden, der Sündenfall nicht Adams und Evas Bestrafung, sondern ihrer Mensch- werdung, und die von Goethe übernommene Pandora kommt nicht als Spenderin von Unheil, sondern von Glück. Es ist jedoch bedenkenswert, daß der Autor dies Abtrotzen eines Positiven sogar bis ins Trauerspiel beibehält. Da hier die Vorzeichen vertauscht sind, trägt das Positive an Jona möglicherweise zur Verstärkung der Trauer bei. Wir werden das noch zu klären haben. Vorerst läßt sich sagen, daß es folgerichtig ist, wenn dem Fluchenden mangelnde Anteilnahme am Fluch vorgeworfen wird. Nicht ohne Zweck benutzt Jona Prosa anstatt Verse bei der Verfluchung: Sie soll zwecklos bleiben. Nicht Jona will schließlich, daß Ninive untergeht, Ninive selbst scheint es zu wollen, wenn irgendein absoluter Herrscher das Staatswesen meint. Daß es dennoch bleibt, verdankt es der Größe von Jonas Auftraggeber, der über dem bloßen Wollen eines Staates steht.
Doch beenden wir dies Jona-Kapitel mit dem Aufruf zur Buße, der dem halbherzigen Fluch vorausgeht. Er enthält die Gründe zum Fluch und ist gerichtet an die Herrscherin Semiramis. Hier handelt Jona, hier spricht auch er in Versen. Die Königin soll büßen für schlechte Staatsführung:
JONA | ... Denn wahrlich, auf Zwei Herrschaftsweisen ist der Staat gegründet, Auf Staatsvernunft, die das Vorhandne regelt, Und Staatskunst, die ins Mögliche sich dehnt; Doch was dem Staat den Grund entzieht, ist Staats- schlaubergerei: dies selbstverliebte Lügen, Dies alles dulden und so alles kränken, Dies immer eins tun und das andre auch Und keines folglich ganz, dies nicht den ärmsten Gewinn ausschlagen und am Ende jeden Verpassen: So entsteht der Ekel und Der Niedergang. Das aber büße jetzt. |
Semiramis ist tatsächlich schlimm. Zu ihren allerschlimmsten Eigenschaften gehört ständiges Irreführen. Die Irreführung des Lesers entspricht der Irreführung ihrer eigenen Untertanen. Daß sie ihre schlimmen Taten auf geistreiche Weise kommentiert, unterscheidet sie nicht von all den anderen Personen dieses Theaters, die überhaupt sprechen zu lassen der Autor sich eben noch entschließen konnte. Man weiß das allmählich und läßt sich dennoch immer wieder ablenken. Schließlich, wir sind nicht Jona, der unter jedem Umstand fähig ist, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. (Jona: »Ich habe keine Muße, Ihre Worte zu beachten, ich lasse mir eben Ihre Handlungen durch den Kopf gehen.«) Diese mangelnde Konzentrationsfähigkeit des Publikums ist nichts Neues. Bereits hundert Jahre nach dem Erscheinen der großen drei französischen Dramatiker, im 18. Jahrhundert also, stellt der Literaturwissenschaftler La Harpe bedauernd fest: »Wir heute sind allenfalls noch fähig, uns für die drei, vier großen Szenen und den bewundernswerten Stil unserer Klassiker zu erwärmen, die feine und kluge Ordnung ihrer Dramen erfassen wir schon nicht mehr.« Wenn Anstrengungs- und Gedächtnismangel so weit verbreitet sind, um so besser für einen, könnte man meinen, der zitierfähig schreibt. Hat es denn aber dem »Faust« genützt, daß man wild aus ihm herumzitierte, statt ihn verstehen zu wollen?
Außerordentlich ist es schon, wie da einer in diesem ausgehenden Jahrhundert und am Ende seines sechsten Lebensjahrzehnts von der einsamen Mühsal nicht lassen will, die Nachricht von der angewachsenen Unordnung in der Welt in seine sehr eigene Ordnung zu zwingen. Ob er doch heimlich mit dem alten Menschenbedürfnis nach Kohärenz rechnet? Beobachte ich die Spatzen an meinem Fenster, so fällt mir vor allem eines auf: Was zu tun sie vorhaben, läßt sich nie vorhersagen; sie halten es nie lange bei einer Tätigkeit aus, fallen anscheinend ursachlos von einem ins andere, so als mangele es ihnen überhaupt an Vorsätzen. Solch putziges Treiben verfolgend, überfällt mich dann eine große Liebe zur Menschheit mit ihrem seit dem Paläolithikum eingebürgerten Sinn für Zusammenhänge und ihrem Eigensinn im Verfolgen von Zielen. Eine solche Liebe muß den Dichter auch bewohnen, anders wäre der Eigensinn seines Werkes nicht erklärbar.
Was nun Semiramis angeht, so gleicht sie ganz meinen Spatzen – sieht man einmal davon ab, daß sie hacksisch schilpt. Allerdings steht sie einem Staate vor. Das Putzige wird gemeingefährlich. »Weib, willst du nicht stillhalten«, fährt Jona sie schließlich an, einmal alle Etikette und Philosophenruhe fahrenlassend. Sie ist mit großer Macht ausgestattet, hätte also die schönsten Möglichkeiten zu großer Politik und mißbraucht ebendiese Macht zu kurzatmigen Spielereien. Nicht daß deren Sinn undurchschaubar ist, muß man ihr vorwerfen, sondern daß sie offensichtlich allen Sinnes entbehren. So verspielt sie das hohe Erbe, das sie sich ermordet hat. Doch sie selbst weiß ihre Fehler am besten zu formulieren und führt Jonas Anklage auf brillantere Weise fort, als dieser sie begonnen. Dies Selbsteingeständnis ist nur wieder einer ihrer Tricks zur Irreführung; man glaubt an eine geniale Selbstanklage – oft kommt dergleichen bei Staatsmännern ja nicht vor –, und schon durch ihre nächste Handlung widerruft sie alle Aussichten auf Besserung. Gewiß, sie scheint Gedanken zu haben, aber es ist, als könne ihr Kopf nicht lange genug bei einem Gedanken bleiben. Asyrte, die Tochter, bringt es auf die Formel: »... Der Geschäftsgang / Ist weibisch hier ...«
Das sei es wieder, was dahinter stecke, höre ich das Heer der Schwestern rufen, mit Semiramis seien wir gemeint mit unserer von diesem zu jenem hüpfenden, nichts festhaltenden Denkweise, welche sich in den Jahrhunderten herausgebildet, da wir uns mit dem Allzuvielerlei der unteren Ebene zu beschäftigen hatten, damit weiter oben das Fernhintreffende entworfen werden konnte, und nicht einmal unser starker Punkt, unser Lerneifer,würde geltengelassen; denn Semiramis lernt ja nicht. Man bedenke aber, wer die bitteren Worte vom weibischen Gang der Dinge spricht: ein Weib doch, dem das schlechte Beispiel die Lust zum Weibsein nimmt. Und ferner: Wer war es denn, der mich so lange irreführte, so daß ich Semiramis’ unfesten Sinn nicht für möglich halten mochte? Eine ihr ganz entgegengesetzte positive Heldin dieses Theaters doch, die Frankenkönigin Fredegunde aus dem Historiendrama, das diesem Trauerspiel vorausgeht. Fredegunde behält schließlich recht, weil sie eigensinnig an einer einzigen Idee arbeitet: an der Befestigung des Frankenreiches. Aber sie siegte durch Glück? Sie siegt mit – nicht durch – Glück. Glück ist die goldene Fassung, in welche das beharrlich rechte Handeln hineingearbeitet ist. Von Semiramis ließe sich nicht einmal sagen – wie man es von Brunhilde, Fredegundes Konkurrentin, behaupten könnte –, daß sie ihrem Glück entgegenarbeite und deswegen unrecht habe. Das setzte immerhin ein zusammenhängendes Handeln voraus.
Meine langandauernde Verwechslung mag die Folge meines nicht immer angemessenen Verständnisses für Dramatik sein. Ich lasse mich leicht durch Einzelschönheiten düpieren, es gelingt mir oft nicht gleich, in Zusammenhängen zu denken und einer übergreifenden Handlung zu folgen, sobald sie nur ein wenig verwickelt ist. Und Fredegunde und Semiramis haben einmal beide diesen Sinn fürs arg Verwickelte. Daß Semiramis schließlich nichts aufzudröseln bereit war und die Verwicklungen mutwillig selbst herbeigeführt hatte, konnte ich doch nicht wissen. Mein Kopf war eben ganz von Fredegunde verstellt. Beide Königinnen sind ungeheuer beschäftigt – vor allem mit Geheimsachen. Da ist ein Hin und Her, daß einem ganz wirr im Kopfe wird. Und man staunt: Dies ganze Gedränge wird in beiden Stücken nur von jeweils fünf Personen getragen, die trotz ihres hohen Ranges ganz ohne Bedienstete auskommen. Auch ohne Kulissenschieberei geht es in beiden Dramen zu. Die ganze Unruhe findet jeweils statt an einem Ort. Auch häufigen Tageswechsels bedarf es nicht. Am Abend des ersten Handlungstages, gegen Ende des vierten Aktes, sagt Eskar: »Der Tag war arbeitsreich.« Doch wenn Semiramis am Abend des zweiten Handlungstages, gegen Ende des Trauerspiels behauptet, »das hohe Ziel des hohen Tags« erledigt zu haben, dann lügt sie – doch wann löge sie nicht? In Wahrheit hat sie nicht gearbeitet, sondern Arbeit verhindert und zerstört.
Geht nur so noch die neue Tragödie zu schreiben: als Anti-Tragödie? Nein, so werden die zeitgenössischen Schreiber ihre Theatertexte auch bezeichnen und entschuldigen. Man muß es anders fassen: Zwei Dichterweisen gibt es, auf eine heruntergekommene Welt zu reagieren; man paßt sich ihr an, oder man verweigert sich ihr und führt sie hinauf in die Erscheinung. Beider Produkte machen traurig. Die einen im moralischen Sinn, in der Weise, wie etwa eine Mutter zu ihrem ungeratenen Kind sagt, es mache sie traurig, daß es schon wieder mutwillig sein Spielzeug zerstört habe. Die Trauer der zweiten Art ist ästhetischer Natur und kommt aus dem Produkt selbst zu uns; es ist eine gestaltete Trauer. Traurig macht es ja, wie da ein Knäuel an Tätlichkeiten, im köstlichen Gewand der hohen Sprache den Abstand bezeichnend zur ehmals möglichen festverfugten Tragödienhandlung, durch ein letztes Tätlich-Werden zerhauen wird: durch die Ernennung des blöden Knaben zum Nachfolger. Welch schreckliche Metamorphose machten jene anmutigen Königskinder durch, in welche Racine einst die letzten Funken seiner Hoffnung gerettet, da es mit seinem König und seinem Königreich so sehr bergab ging! Es muß eine hohe Hoffnung gewesen sein, die hier in solchem Bild geronnen ist.
In dieser Situation bleibt dem Dichter nur die Form des Trauerspiels, welches, anders als die hohe Tragödie, nicht den sich zur Freiheit hinbewegenden Weltverlauf in seiner Totalität meint. Es gab und gibt viele Ninives; also liegt es weder im Zentrum der Geschichte noch der Welt. Man befindet sich in einem seltsamen Dilemma: Das kleinere Genre macht, da es weniger hoffnungsträchtig ist, traurig; doch da es nicht das Wesentliche des Weltganzen meint, nimmt es der Traurigkeit wieder von ihrer Düsternis. Zum ersten, zur tiefen Traurigkeit hin führt das Umlenken des »Jona«-Stoffes: Der Fluch eines geduldigen Jona ist besonders bitter und weist hin auf das Ausmaß von Ninives Verfehlungen. Ausdruck des anderen, der aufgehellten Traurigkeit, ist die klassische fünfaktige Form, welche der Autor diesem Stoff (wie schon dem von »Fredegunde«) abgewonnen hat. Das Abnehmen der Hoffnung wird mit Dichterhaltung getragen. Es gebe nun auch bei Hacks diese unerquicklichen Seelenzweifel und -kämpfe (nämlich der Helden Eskar und Asyrte, welche zwischen ihrer eingeborenen Treue zum Staat und dem notwendig gewordenen Verrat an ihm schwanken)? Gewiß, doch führt dies in äußere Handlung umgesetzte Schwanken nicht zur Unordnung, macht vielmehr den zweiten Akt (zwischen Exposition und Peripetie) nötig, sowie den vierten (zwischen Peripetie und Katastrophe), will sagen: Es gibt dem Drama eine vielfältig zusammengesetzte Ordnung, welche der Ordnung einer neuen Welt entspräche.
Einen eigenen Weg auch nimmt das mit dem Hin und Wider der Dramenhandlung in diesem Theater. Die Nebenhandlung scheint immer wichtiger zu werden, je dürftiger die Hautpersonen handeln. In »Numa« wird es offen ausgewiesen: Es geht im Streitfall der recht breiten Nebenhandlung um eine Lira zwanzig. In das ständige Paktschließen und Hin und Her in »Fredegunde« muß sich der Zuschauer erst hineinarbeiten, um zu erkennen, daß es Haupt-, nicht Nebenhandlung ist. In der Tragödie steht nun die Nichtigkeit des Handelns im Mittelpunkt und wird zum erstenmal getragen von der Herrschergestalt selbst. Ein Glück, daß es noch den Jona gibt. Der Weltgeist mag am Ende für Hacks das sein, was dem Racine seine engelhaften Kinder wurden. Doch welchen Weg die Welt auch immer nehmen mag, in sie hinein wird er seine Werke zu schicken haben, es sei denn – man weiß das ja nie genau –, die Welt fängt eines Tages an, sich ins Dichterwerk zu schicken.
Doch was heißt hier Welt! Jona landet an einem sehr bestimmten Ufer, und Semiramis regiert einen ganz bestimmten Staat, und all ihre Vergehen sind Vergehen an diesem Staat. Die Konkretheit im Drama hat hier ihren Grund: Durch den historischen Semiramisstoff scheint die den Dichter und seine Zeitgenossen betreffende Gegenwart hindurch. Semiramis verspielt leichtfertig eine gute Ausgangsposition. Die Historie widerspricht dieser Darstellung nicht, ebensowenig wie leider die Gegenwart. Wo wissenschaftliche Erkenntnisse und das, was sie bereits in den Menschen angelegt haben, ungeduldig fahrengelassen werden, so will uns das Trauerspiel wohl bedeuten, da kann wahrhaftig nur Gott helfen (»Gotthelf« assyrisch: »Adatnirari«, der Semiramis historisch belegter Sohn). Und Gott hilft ja nicht, wenn ihm nicht beigesprungen wird. Jeder Dramatiker, der einen König schreibe, sagt Hacks à propos Voltaires Tragödie »Semiramis«, schreibe seinen eigenen König. Daraus folgt, daß, wenn Hacks in Frankreich und vor der Revolution gelebt hätte, ihm nichts übriggeblieben wäre, als sich seinen entsprechenden Ludwig vorzunehmen. Und wäre es mit dem und seinem Staat nicht so verlaufen, wie der Autor es erhofft, so hätten seine Stücke zwar den Stempel dieses Hoffnungsverlustes getragen, aber er hätte nicht angefangen, für Mädchenpensionate zu schreiben, wie Racine es tat, sondern hätte weiterhin fürs Theater gearbeitet, und käme dies Theater auch in einer Wüstenei zu stehen. Sein Trauerspiel nun ist fern im Orient angesiedelt. Ach, das ist sehr weit weg, von hier hinten aus gesehen. Wenig genaue Nachrichten kommen von dort bis hierher übers Gebirg. Nun dringt Semiramis’, der Königin Schreckensstimme herüber mit den folgenlosen Selbsterkenntnissen. Und so soll sie, eh wir uns ihrem Staat zuwenden, noch einmal zu Wort kommen; das letzte Wort bleibt ihr ja ohnehin:
SEMIRAMIS | Derer lasterhaft sich stellt, wird lasterhaft. Der alle täuscht, der darf auch sich nicht glauben. Und meine zu umwegige List, Verrottung Herbeizuführen, vorsätzlich, doch so, Als waltete natürlicher Verfall, Kurz, uns zu schädigen, um uns zu retten, War krauses Zeug und Eitelkeit des Planes. Assur, es schien dem Kleinmut meines Innern Zu schwach für Babels alte große Sache, Zu schwach für Ararats Verwegenheit. Verloren schien es mir, und so verlor ichs. Des Irrtums Wurzel war der Eigenzweifel. Die Last der Welt war über meiner Kraft; Ich zog die Folgerung daraus, die Welt Sei über Menschenkraft ... |
Solche Worte kann nur erfinden, wer eine hohe Meinung vom Staat hat. Dem entspricht das Ausmaß der Trauer. Von denen, die solcher Trauer nicht fähig sind, muß man annehmen, daß sie keine Dichter sind oder aufgehört haben, es zu sein; denn wo es mit dem Staat niedergeht, bedarf es übermenschlicher Kräfte, um noch Kunst herzustellen. Die hohe Freiheit, zu der eine Gesellschaft unter einer entschiedenen, würdevollen Führung gelangt, scheint der Kunst günstig zu sein. Was man von Heiner Müller las (es war gemeint als Tadel), daß nämlich der Deutsche »kein ironisches Verhältnis zum Staat« habe, ist schon nicht mehr Zynismus, es muß Teil eines Blödeleiprogramms sein. Leider haben sich viele Deutsche einmal mangelnden Staatsernstes schuldig gemacht und sich dafür den Hitler sowie völlige Unfreiheit und die Zerstörung ihres Staates eingehandelt. Von manchen Deutschen meiner sozialen Schicht weiß ich, daß sie für Hitler gestimmt haben, »nur mal so um zu sehen«, um dem bunten Reigen der Staatsführer auch diesen bunten Vogel einzufügen. Staatsernst ließe sich eher im revolutionsbegabten Land Frankreich lernen.
Bleiben zu wollen ist das einzige Ziel, das Semiramis verfolgt. Jona aber entlehnt seinem Kollegen Jesaja die (lutherdeutsche) Warnung: »Glaubt ihr nicht, ... so bleibt ihr nicht ...« Der Autor ist streng mit seiner Staatslenkerin; mir fallen fast keine Staatsführer ein, welche ein anderes Ziel verfolgen, als sich noch etwas zu halten und anderes zu regeln als kurzfristige Tagesprobleme. Spatzenpolitik, das ist, was die meisten Regierungen zu bieten haben. Ich beneide keinen Staatsmann, der unter diesem Dichter einen Staat zu ordnen hätte. Womöglich legt der Dramatiker an dessen Staatskunst den gleichen strengen Maßstab, mit dem er seine Kunst zu messen gewohnt ist.
Ginge es aber nur darum, daß Semiramis spielt, wenn sie meint, Staatskunst zu betreiben; schlimmer ist, daß sie alte Güter verspielt. Verbündet ist ihr Assur noch mit Babylon, »wo einst der Mensch dem Tierreich sich entriß«. Ebendort wurde jener Menschwerdungsprozeß in Gang gesetzt, den die Staatsfeindin Belit, die Geisel aus dem Nachbarland, verächtlich als »Der ganze Pomp der Überhebung wider / Menschliche Einfalt« bezeichnet. Ein Dichtertrick: Man gebe dem, was man zu loben wünscht, die Form der Kritik durch eine mißbilligte Gestalt. Prinzessin Belit ist eine Gefangene aus dem nahen Ararat, einem Land, in dem es offenbar allerlei Freiheiten gibt, die Freiheit z.B., menschlicher Einfalt freien Lauf zu lassen. Möglicherweise läßt man dort überhaupt den Dingen so ihren Lauf und lebt »nach dem Gesetz der Steppe«. Solche Völker lieben keine Zwänge, und der Zwang zurMenschwerdung ist einer der unbequemsten. Belit, der Feindin, bleibt auch das unerhörte Lob auf Assur vorbehalten; dort, so sagt sie, dächten alle Menschen viel, und selbst die Frauen seien Gelehrte und hätten »Kenntnis von dem weiten Ganzen«. Aber das sei nur Lobhudelei der Heuchlerin? Es mag dies ebenfalls ein Dichtertrick sein: Auch vom Lob des Feindes wird wohl etwas hängenbleiben – wenns noch nicht da hängt. Belit ist eine Fortentwicklung vom Lityerses, dem zitherspielenden und feuerspeienden Ungeheuer aus »Omphale«. Sie beide vertreten eine ältere Lebensweise (s.o.) und versuchen zu dieser zu verführen. Zugegeben, die schöne und geschminkte Belit ist da besser ausgerüstet als ihr noch ein wenig ungeschickter Vorgänger.
Daß Eskar sich nur gezwungenermaßen und gegen seine Natur mit ihr einläßt, nämlich weil es zum Irreführprogramm der Herrscherin gehört, zeigt, daß Semiramis einen solide eingerichteten Staat übernommen hatte. Es war ja anfangs so, daß der oberste Beamte und die Erbin einander liebhatten. Das klänge allzu sehr nach Interessenwirtschaft? Ein Haus ist aber wohlbestellt, in welchem Neigung und Interesse zusammengehen. Man tut sein Möglichstes, um das zu stören, und Eskar wird zu einer schändlichen Trennung von Öffentlichem und Privatem gezwungen. Ein Staat, in dem diese beiden auseinanderfallen, wird kein Staat sein, in dem gut zu leben ist. So fest gegründet waren die Verhältnisse, daß eine Schlacht gegen den Feind, gegen Belits Land, gewonnen wird wider Semiramis’ Befehl. Zum unbefohlenen Sieg des Heeres meint Eskar, der es vom Feldherrnstandpunkt sieht, es sei »schlechte Zucht« gewesen. »Die Zucht des Vaterlands«, erwidert zynisch und sehr richtig seine vielwissende und schändlich handelnde Auftraggeberin. Kann man eine höhere Meinung haben von einem Staat als der Dichter von diesem östlichen Land mit seiner alte Kulturgüter verwaltenden, vielhundertjährigen Hauptstadt? Nur den allerbesten Orchestern ja gelingt es, noch ein paar Takte lang richtig weiterzuspielen, nachdem der Dirigent ausgefallen ist. Und solch eigensinnig an ihrer einmal gefaßten, liebenden Verehrung festhaltenden Dichtern geschieht es (weil das Ausmaß ihres Eigensinns wohl nicht zu fassen ist), daß man sie für zynisch hält.
Zu Semiramis’ unfruchtbarem Tätigsein rechnet Jona auch ihre Gewohnheit, »Gespräche mit allen Erdteilen« zu führen. Über das Kapitel »Außenpolitik« scheinen Jona und der Dichter ziemlich einhellig zu denken. Stets wenn in diesem Theater Leute vorgeführt werden, welche es vorziehen, herumzureisen, statt an ihrem Arbeitsplatz zu bleiben und die inneren Angelegenheiten zu regeln, ist wohl ein Stück »zeitvergeudende« Außenpolitik gemeint. Das Innere ist auch das Wesentliche. Was den Menschen vor allen anderen Wesen auszeichnet, ist, daß er Zufälle meistert und sie auszuschalten bisweilen fähig ist. Nichts aber scheint dem Dichter mehr zuwider zu sein als Unmenschlichkeit, also ein Zustand, der von jenem Menschenvermögen des ordnenden Planens abhält. Und Außenpolitik ist wohl das, was mehr als andere Tätigkeiten voller Überraschungen steckt und von so vielen nicht beeinflußbaren Imponderabilien abhängt, daß es dort mehr als anderswo wie bei den Spatzen zuzugehen scheint.
Im Essay läßt der Autor zwar wissen, daß Außenpolitik sich dann rechtfertigt, wenn sie Teil der Innenpolitik ist, läßt aber keinen Zweifel daran, daß dies die Ausnahme darstelle; nur robuste Staaten könnten sich dergleichen leisten. Folglich erscheint im Essay Außenpolitik als verselbständigtes Ziel. In meiner Weltgegend kann man nurmehr eine ränderlose, grenzgängerische Außeninnenpolitik ausmachen. Wie die Zeit aussieht, da uns die Metaphysik der Börsenkurse in Atem hält, entnehme ich dem Kommentar des Bankiers im Wirtschaftsteil: »Wir haben hier zum erstenmal im großen Maßstab die Folgen der Globalisierung der Finanzmärkte erlebt. Wir sind alle enger zusammengerückt, stärker untereinander verflochten als früher. Wir leben in einem Weltdorf.« Zu »Weltdorf«, dem arg heruntergekommenen, einst erhofften Kosmopolitismus, paßt dieser miese, dem Zwang der Kernwaffen verpflichtete Weltfrieden, der wahrhaftig wenig jenem großen Friedenszustand gleicht, von dem die Menschheit einst geträumt. Er ist vielmehr der Kleister, mit dem die wichtigen Menschheitsfragen überpinselt werden, er ist der Teppich, unter den man die großen Probleme kehrt, deren Austragung man sich nun nicht mehr leisten darf. »Überleben« ist die Devise, nicht eben ein sehr hochgestecktes Ziel – man teilt es mit der Tierwelt, und es gleicht dem einzigen Zweck der Semiramis: bleiben zu wollen. Ich weiß es nicht, ob dieser ekelhafte Zustand, diese Ausgeburt von knechtischen Notwendigkeiten zum Mißtrauen des Autors gegenüber der Außenpolitik beigetragen hat. Es gebe keine Alternative zu dieser Notwendigkeit? Aber es lebt sich nicht gut in einer Welt mit so groben Alternativen. Jeder Sinn für Klarheit und Feinheit kommt abhanden – man merkt es an der Kunst, die in einer solchen Welt gedeiht. Die Mehrzahl der Dichter sind Strahlenopfer.
Mir wird es nicht leicht, etwas von der im Essay behandelten Außenpolitik im Drama wiederzufinden. Manches scheint in diesem geradezu umgekehrt dargestellt zu sein. Der Essay behandelt die an der Schlacht uninteressierten Staatsmänner immerhin als raffinierte Intriganten, die wissen, was die Stunde geschlagen hat, während die Feldherrn, die die Schlacht dennoch schlagen wollen, als blöde Haudegen abgetan sind. Im Stück hingegen ist die Schlachtverhinderin eine Verräterin am Wohl ihres Volkes und der Feldherr einer, der den höheren Standpunkt hat. Im Essay gilt ein Staat für um so lebensfähiger, je mehr seine Außen- und Innenpolitik einander ähneln. Ebendiese beiden aber sind bei der unfesten Politik der Semiramis nicht auseinanderzuhalten. Es scheint so, als betreibe sie ständig Außenpolitik, auch wenn sie mit ihren eigenen Untertanen umgeht, für welche Eskar und Asyrte stehen. Die behandelt sie kaum anders als das Ausland. Was das letztere betrifft, so erinnert sein Verhältnis zu Assur ein wenig an die Beziehungen zwischen dem »Ständestaat England« und dem »Beamtenstaat Frankreich« des 18. Jahrhunderts, so wie sie im Essay beschrieben sind. Ebenso wesentlich – keineswegs zufällig also – scheint die Gegnerschaft der beiden Länder des Dramas zu sein, obwohl sie sich ähnlicher Idiome bedienen. Es muß sich bei ihnen, wie bereits erwähnt, um zwei gegensätzliche Weisen, den Staat zu ordnen, handeln: Ararat ist ein Land mit Gewohnheiten, wie sie Jägern und Sammlern eigentümlich, während Assur eine kompliziertere Ordnung des Zusammenlebens besitzt, welche ständiger Absprachen mit Vermittlern bedarf. Wenn es sich von Ararat bedroht fühlt, so muß es sich in seiner Substanz bedroht fühlen. Es geht bei dieser Auseinandersetzung also um Innenpolitik. Das heißt, es sollte darum gehen. Doch Semiramis behandelt diese wichtige Angelegenheit auf ihre unsolide Weise wie ein bloßes Machtverhältnis unter Gleichgesinnten, wie Außenpolitik also. Ihre Regierungsweise läßt die Hoffnung vom Ende aller Außenpolitik, vom wahrhaftigen Weltfrieden nicht zu. Sie ist davon ebensoweit entfernt wie das unsaubere weltdörfliche Unter-einer-Decke-Stecken der Banker oder wie der unreinliche Strahlenfrieden. Doch ob Außen- oder Innenpolitik, diejenigen, welche unmittelbar davon betroffen, sind die der Herrscherin anvertrauten Untertanen. Jona zu Semiramis: »... die Eisenräder deines Siegeswagens sind beschmiert mit den zermahlenen Herzen deiner eigenen Diener und treuen Freunde.« Semiramis muß damals schon, im fernen Assur, eine künftige Zeiten vorwegnehmende Politik betrieben haben.
Der zweite Teil des »Jona«-Essays handelt über Theatergespenster, speziell über den Geist des von Semiramis ermordeten königlichen Gatten. Hacks benutzt hier die gleiche Quelle wie Voltaire: Die assyrische Königin ist – wie ihre mythologische babylonische Namensschwester bei Voltaire – eine Gattenmörderin. In der französischen »Semiramis«-Tragödie tritt der Geist des Ermordeten gewissermaßen in Fleisch und Blut und am hellerlichten Tag mitten im Conseil d’Etat auf. Der Zweck von Voltaires Gespenst ist es, Semiramis zur Ordnung zu rufen. Hacks’ Zweck, es so aus- drücklich zu erwähnen, mag u.a. sein, auf das Gespenst in seinem Trauerspiel aufmerksam zu machen. Das ist tatsächlich so geisterhaft, daß man es glatt übersehen könnte; im Personenverzeichnis wird es z.B. nicht aufgeführt. Es ist also anderer Natur als das von Voltaire, dessen Tragödie der Dichter übrigens bei der Konzeption seines Dramas noch nicht gelesen hatte (hier in Frankreich bin ich noch nie auf jemand gestoßen, der es gelesen hätte). Vielleicht ist Hacksens abwesendes Gespenst ein Trick als Folge langjähriger schlechter Erfahrungen mit Regisseuren: Die pflegen vieles von dem wegzulassen, was Dichter ihnen vorschreiben, und alles Mögliche hinzuzufügen, was Dichter nicht vorgeschrieben haben. Weshalb es die meisten Theaterschreiber auch nicht mehr für nötig halten, große Mühe auf das Erstellen von Theatertexten zu verwenden, und eine neue, zeitsparende Technik entwickelten. Wenn ich den obenerwähnten Müller nochmals zitieren darf: Stücke schreibe man, sagt er, »nicht mit dem Kopf. Man schreibt mit den Füßen.« Da Hacks sich jedoch bei seiner Arbeit auch weiterhin seines oberen Körperteils zu bedienen scheint (man guillotiniere ihn denn zuvor), mag er gedacht haben: ein nicht eigens als solches angeführtes Gespenst – das werden sie auf die Bühne bringen. Es handelt sich nämlich bei diesem gespensterhaften Gespenst, ganz wie es die Geschichte vorschreibt, um eine sehr positive Gestalt: Der Vorgänger der Semiramis, dessen Thron sie geerbt, nachdem sie ihn ermordet, hatte einst viel für die Befestigung des Staates Assur getan. Der Dichter scheint einiges von ihm zu halten, da es tatsächlich seiner Ermordung bedurfte, ehe man mit konzeptionsloser Politik antreten konnte.
Erscheint sein Geist nun also à la Voltaire, um zu warnen? Das wäre doch, so wie die Dinge einmal liegen, vergebliche Mühe. Die Semiramis des Voltaire läßt sich belehren, sie ist ein Kind der Aufklärung. Das ist nicht die Zeit von Hacksens Semiramis. Das Gespenst des ehemaligen Königs erscheint vielmehr in Form eines Bartes, den sich Semiramis vorbindet, wenn sie ex cathedra sprechen will. Es ist historisch, ich habe das nachgesehen (diese Treue, mit welcher die Dramatiker die Historie behandeln, hat etwas Rührendes): Der Bart war wichtigstes Königsattribut in jener fernen Zeit. Die deutsche Semiramis nun, da sie keinen eigenen Bart hat, muß sich einen ausborgen. Das Volk kennt am besten den des Vorgängers. Doch ist sie keineswegs von dessen Geist bewohnt, wenn sie sich mit dem Bart schmückt, sondern handelt und redet mit ihm geschmückt ganz so, wie sie es bartlos auch zu tun pflegt. Der Geist tritt in diesem Trauerspiel nur als hohle Hülle, als vorgebundene Maske auf; er dient zur Verstellung und Irreführung. Ganz im Gegensatz dazu ist das Gespenst bei Voltaire die aus dem Inneren kommende, Gestalt gewordene Gewissensnot der Königin. Semiramis: »Seit Monaten bewohnt der Schreckensgeist / Mein armes Herz, mein Ohr und meine Augen.« In der Tat, Theatergespenster halten sich in ihrem Erscheinen an die Gepflogenheiten ihrer Zeit.
Ist es eine Zeit, die zum Guten hin sich zu bewegen scheint, so trägt sie die Dichter mit tausend Flügeln. Diesen die Dinge zusammenrückenden, Übersicht bewahrenden Außenseitern geschieht es dann, daß sie im Drama auf einen guten einen ausgezeichneten Staatslenker folgen lassen – wider alle Menschengeschichte. Geht die Zeit aber zum Schlechten hin, so beschwert sie die Dichter mit allen Felsblöcken des Erdballs, und sie sind dann, falls sie noch die Kraft zum Hervorbringen haben, imstande, eine schlechte von einer nichtswürdigen Regierung ablösen zu lassen. So nämlich ist es in Shakespeares nachelisabethanischen Dramen (z.B. im »König Lear«), so in »Jona«. Auf Semiramis folgt der tumbe Gotthelf, der nicht mehr sich Äußernde. Er findet seine »Verlängerung«, sofern dies Wort hier angebracht, im letzten Teil des Essays, der von Walen und ihrer Metamorphose in der Geschichte handelt. Sie werden, so das Ergebnis von des Dichters wissenschaftlicher Recherche, im Laufe der Jahrhunder- te immer kleiner. (Zwar läßt sie im 19. Jahrhundert der Schriftsteller Melville noch einmal ziemlich groß sein, aber dafür hat sein Held, Moby Dick, in seinem aufgeblasenen Leib alles Unheil der Welt zu tragen.)
Der Wal des Dramas birgt in seinem Körper von alttestamentlicher Größe den Boten des Herrgotts. Das Gefäß muß so riesenhaft sein, weil der Geist des Herrn, der ihn bewohnt, so sehr groß ist. Es wird dann der unaufhaltsame Schrumpfungsprozeß dieses schwimmenden Gefäßes beschrieben. Die letzte Station dieses Prozesses ist jener grämliche Winzling, welcher im Glas auf des Dichters Schreibtisch herumschwimmt. Dies Fischlein mag gerade noch imstande sein, den Geist des Gotthelf spazierenzutragen. Ich bin eigens hingereist, um in treuer Philologenart nachzuprüfen und mir mit eigenen Augen das corpusculum delicti anzuschauen. Ich habe es nicht entdecken können. Meine erste Vermutung war, das Wälchen sei inzwischen noch weiter geschrumpft und unbewaffneten Auges nicht mehr zu erkennen. Doch der Hausherr versicherte, er habe es inzwischen weggekippt.
Und das erfüllte mich mit jener Hoffnung, ohne die kein Dichter seinen Besucher entlassen darf. Die beherzte Tat des Gastgebers – gleicht sie nicht der biblischen Empfehlung, auszureißen, was einen ärgert? Das komische Bild am Ende des Essays ist tatsächlich die Verlängerung des Dramas, das ja schon mit einer Pointe schließt. Es ist die Pointe nach der Pointe, eine, die uns herzlich lachen macht. Wir reiben uns die vom Trauerspiel noch feuchten Augen. Und jetzt will es uns auch einfallen: Der Dramenschluß, ist er nicht ein letztes Verwirrspiel, das Ans-Ende-Führen einer wirren Welt? Den Gott aus der Maschine – als ein herabkommendes Nichts vorführen, will sagen, eine verkehrte Welt in ein letztes verkehrtes Bild fassen, das heißt doch, sie umkehren und wieder auf die Füße stellen. Man bedenke: Am Morgen war der Wal noch in seiner ganzen Breite und Länge dort angelandet, wo er wenig später, unerkennbar klein, verschwunden ist. Dies Zeitraffen kennt man aus Träumen und aus der Kunst. Nach den bösen Träumen gibt es ein erlösendes Erwachen.
Übrigens, Semiramis hat das letzte, aber nicht das allerletzte Wort. Das nämlich spricht »die Darstellerin der Asyrte« im Epilog. Sie hat zu sagen, was Schiller damals seinem Publikum noch auf andere, wenn auch nicht minder anstoßerregende Weise zu sagen vermochte. Das damalige »Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst« (zu sprechen vor dem »Wallenstein«-Gedicht) setzte ein hohes Kunstverständnis und ein Publikum voraus, das in der Lage war, zwischen dem Stoff und seiner Behandlung zu unterscheiden. Asyrtes Worte aber verlangen zusätzlich vom Publikum die Erkenntnis, daß in dem vorliegenden Trauerspiel die Behandlung des Stoffes diesem nicht nur konträr, sondern in ironischer Weise immanent ist. Der edlen Maske des Schamsch, hinter welcher Semiramis ihre Lügen vorbringt, entspricht das edle Sprach- und Tragödienkleid, in welchem der Stoff der Unordnung und Lüge dargeboten wird. Vermutlich solange es Kunst gibt, hat man über das Verhältnis von Kunst und Lüge nachgedacht – nur tat man es nie auf so niedrigem Niveau wie heute. Und da kommt Hacks und verlangt von seinem Publikum mehr als Schiller selbst. Dem Dichter ist nicht zu helfen. Sein Wille zur Menschenwürde scheint so groß zu sein wie Jonas Walfisch.
Auf eine weitere Unterscheidung weist der Epilog hin: auf die zwischen dem Dramenstoff und dem Leben. An dieses »Jahrhunderts ernstem Ende« stellt sie sich ziemlich anders dar als zu Schillers »Wallenstein«-Zeit. Damals hatte Schiller gemeint, den Dichtern würde abgefordert, ihre Kunst nicht von der hochgemuten Zeit mit ihrem »bedeutenden Ziel« überflügeln zu lassen. Welch edler Wettstreit zwischen Kunst und Wirklichkeit! Von heutigen Dichtern wird gefordert, sich von ihrer Zeit nicht herunterdrücken zu lassen auf ein kunstfremdes Niveau. Bliebe noch der hohe Wettstreit mit dem Weltgeist, den eine Nachwelt nur zu lohnen weiß. Aber diesem scheint ebensowenig an einer zerstörten Welt gelegen zu sein wie dem Dichter; beide arbeiten womöglich Hand in Hand. Zum Schluß erinnert der Dichter seine Zuschauer tröstend daran, daß deren Stadt wahrscheinlich noch steht (und dies, wissen wir ja, geht nicht ohne eine gewisse Vernunft zu). In dem Sinn äußert sich auch Jonas Auftraggeber: »... und mich sollte nicht jammern Ninives, solcher großen Stadt, in welcher sind mehr denn 120000 Menschen, die nicht wissen Unterschied, was rechts oder links ist ...« – sprach der Herr.